TAG 1

 

Um sechs Uhr fünfzehn ist unsere Nacht zu Ende. Unser Guide Chombah erwartet uns um acht Uhr dreißig auf dem Parkplatz direkt vor dem Hotel. Zum Frühstück werden wir von den gleichen Kellnern begrüßt, die uns nach dem Abendessen vor acht Stunden verabschiedet haben.

Nun ja, mit der Gewerkschaft scheint hier noch keiner gesprochen zu haben. Ob es hier einen Mindestlohn gibt, ist mir nicht bekannt. Aber, irgendwie scheinen alle glücklich zu sein. Möglicherweise darüber, dass sie Arbeit haben. Es wirkt nicht aufgesetzt. Es ist ehrlich.

Pünktlich zur verabredeten Zeit wartet Chombah am verabredeten Platz auf uns. Unsere Taschen und Koffer sind bereits verstaut. Mitbekommen haben wir davon nichts. Nach einem kurzen Briefing erklärt uns Chombah, was uns die nächsten sieben Tage erwartet. Mit einem breiten Lächeln im Gesicht versucht er uns darauf vorzubereiten, was auf uns zukommt. Harte Arbeit. Ich glaube, keiner von uns weiß so richtig, was er uns damit sagen will. Sind wir doch im Urlaub.

Als wir losfahren, sehe ich wieder dieses Lächeln in seinem Gesicht. Er kurbelt seine Fensterscheibe herunter und hat uns damit seine Klimaanlage erklärt. Die kann wenigstens nicht kaputt gehen denke ich. Ich kann mir das Lachen nicht verkneifen.
Wir wollen keine Zeit verlieren und verlassen das Hotelgelände in nordwestlicher Richtung. 
Links von uns wird die Straße von einem hohen Zaun begrenzt. Dahinter befindet sich der gut einhundertsiebzehn Quadratkilometer große Nairobi Nationalpark. Neunzehnhundertsechsundvierzig wurde dieser als erster Nationalpark Kenias eröffnet, beheimatet über achtzig Säugetierarten und ist eines der erfolgreichsten Nashorn Schutzgebiete Kenias.

Am Zaun steht eine Giraffe und schaut uns fragend an. Letztes Jahr hat sich an dieser Stelle ein Löwe unter dem Zaun durchgegraben. Das war hier ein riesen Ereignis, so Chombah.

Hallo, wir sind in Kenia. Das Land der Massai und der vielen Wildtiere.
Wir sind uns sofort einig, einen besseren Guide hätten wir nicht bekommen können. Was wir nicht wissen, dass wir damit recht behalten werden.
 

 

Wir befinden uns mitten in der Savanne der Massai Mara. Wieder stoppt Chombah auf diesen teilweise für uns Europäer nicht mehr zu befahrenden Schlaglochpisten gefühlvoll seinen Wagen. Konzentriert durchs Fernglas schauend legt er dieses nach einer guten Minute mit der uns bereits bekannten Ruhe ganz gelassen zu seiner Rechten auf den Beifahrersitz. Er startet den Motor und legt den ersten Gang ein. Nach einem kleinen Linksschlenker verlässt unser Wagen den Weg. Chombah lenkt das Auto zielgerichtet durch das hohe Steppengras auf eine kleine Anhäufung von halbhohen Steppenbäumen zu. Dann wird der Wagen langsamer und bleibt stehen. Der Motor geht aus. Chombah lächelt uns an und zeigt nach vorne.

Direkt vor uns, gut fünf Meter entfernt liegen im Steppengebüsch vier ausgewachsene Löwenmütter sonnengeflüchtet im Schatten des kleinen Wäldchens. 

Um die Löwen herum tummeln sich ein knappes Dutzend junger Löwenbabys auf der Suche nach Abenteuern. Der Munterste unter ihnen versucht´s erst bei seinen Geschwistern und dann bei einer der Mütter. Klettert auf ihr herum, beißt in ihre Ohren und fällt letztendlich rücklings hinter sie. Im Hintergrund entdecken wir die Reste eines Gnus in einem der Akazienbäume. Nur wenige Meter weiter und ungefähr fünf Meter tiefer sind die Reste eines Tümpels zu sehen. Zwei riesige sich wohl schon im Rentenalter befindende Wasserbüffel suchen ebenfalls Ruhe vor der zu dieser Jahreszeit nicht mehr ganz so starken Mittagssonne. Es herrscht Winter hier. Nur um die dreißig Grad Celsius. Was für ein Erlebnis.

 

 

Schnell offenbart sich unseren Augen ein scheinbar durch unsere Industrienation geprägtes und möglicherweise durchaus verkehrtes Hauptproblem unserer Menschheit, Müll! Müll, überall und nicht nur irgendein Müll. Ganz besonders Plastikmüll. Was machen wir nur falsch. In der Luft liegt der beißende Geruch von verbrannten Autoreifen. Überall am Straßenrand garen über offenen Feuerstellen afrikanische Frauen Maiskolben mit dem Ziel, diese an hungrige Touristen und Einheimische zu verkaufen. Wir mögen keine über Autoreifen gegrillte Maiskolben.

Die Fahrt führt weiter über eine der stadtauswärts führenden Ausfallstraßen in Richtung Südosten. Massen an gut gekleideten Einheimischen bewegen sich auf staubigen Pfaden entlang der Straße in alle Richtungen. Bürgersteige oder gar asphaltierte Gehwege gibt es hier nicht. Teilweise tiefe Schneisen sind mittlerweile in den rötlichen Boden gezogen. Wo wollen die ganzen Menschen nur hin?

 

An unendlichen abgasqualmenden LKW-Schlangen vorbei bahnen wir uns einen Weg durch die immer einsamer werdende Landschaft. Nach gut fünfundvierzig Minuten Fahrzeit erfahren wir unseren ersten Stopp. Es bietet sich ein grandioser Blick in die riesige Tiefebene des Great Riff Valley – den größten Graben der Erde. 

Mit meinem Teleobjektiv versuche ich blödsinniger Weise die ersten Elefantenherden zu erhaschen. Auch wenn weit und breit kaum eine Siedlung in dem riesigen Delta zu sehen ist. Hier gibt es noch viel zu viel Zivilisation für Wildtiere, erfahre ich von Chombah.

Wir drehen noch eine Runde an einem auf dem Parkplatz betriebenen Souvenirläden. Aaron erhandelt sich einen sicherlich immer noch viel zu teuren Hut und nach zwanzig Minuten setzen wir unsere Fahrt fort, genau in die riesige Tiefebene hinein, in der wir einen letzten Blick werfen.

Es ist eine andere Welt hier so weit von Deutschland entfernt. In jeder kleineren Siedlung, die meistens nur aus ein paar wenigen zusammengefallenen Blechhütten besteht, zeigt sich uns das gleiche Bild. Überall Plastik und brennende Müllhaufen. Dazwischen Ziegen, Rinder und Massai, die versuchen Maiskolben und Getränke zu verkaufen. Ich brauche einige Stunden, bis ich mich an dieses Bild gewöhnt habe.

Nach einer weiteren Stunde mindert Chombah die Geschwindigkeit unseres für die nächsten sieben Tage zu Hauses.

Bei uns sind Hofeinfahrten heutzutage in den seltensten Fällen nicht mehr gepflastert. Wir biegen von der geteerten Bundesstraße in nördlicher Richtung ab in unsere Hofeinfahrt. Am Ende dieser Schotterpiste liegt unsere erste Lodge.

Es schaukelt, es wackelt, ich habe das erste Mal Angst um unseren Wagen und meinen Rücken und frage Chombah, wie lange das jetzt so geht. Sechsundachtzig Kilometer! Im ersten Moment denke ich, dass ist wieder einer dieser Scherze. Dem ist nicht so.

Vor uns liegen jetzt noch fünfundachtzig Kilometer Schlaglochpiste, die dieser Bezeichnung nicht wirklich gerecht wird. Unsere Tachonadel wird die fünfzig für heute nicht mehr erreichen. Unsere Durchschnittsgeschwindigkeit beträgt weniger als zwanzig Stundenkilometer. Wir werden für diese Strecke gut vier Stunden brauchen.

An vielen Stellen der Straße fahren wir langsamer als Schrittgeschwindigkeit. Solche Landstraßen hat es bei uns noch nie gegeben. Jetzt weiß ich, was Chombah heute Morgen am Hotel mit harter Arbeit gemeint hat.

Immer wieder müssen wir uns durch Kuhherden und ganze Schaf- und Ziegenvölker kämpfen. Mehr und mehr lassen wir die Zivilisation hinter uns. Strom- oder gar Wasserleitungen gibt es schon lange nicht mehr. 

Wir fahren an diversen kleinen Massai Dörfern vorbei. Und da ist es wieder dieses Problem. Überall Plastik. Das ist das, was mich persönlich hier am meisten schockiert. Wo kommt all dieser Plastikmüll her. Es scheint fast so als entleeren unsere Abfallentsorgungsunterhemen hier unsere gelben Säcke.

Die Massai duschen nicht erzählt uns Chombah. Sie sind eins mit der Natur. Riechen wie die Natur und müssen deswegen auch keine Angst vor wilden Tieren haben. Sie riechen wie wilde Tiere. Und das meint Chombah in keinem Fall abwertend, sondern ganz im Gegenteil, hochachtend. Je weiter wir ins Massai-Land vorstoßen, desto bunter werden die am Wegesrand langlaufenden Massai Männer, Frauen und Kinder. Sie wirken auf uns gerade unter diesen Bedingungen extrem gepflegt. 

Die Safari beginnt. Die ersten Zebras und Gnus queren unsere Piste. Weit hinten am Horizont entdecke ich eine erste Elefantenherde. Chombah glaubt mir nicht und stoppt den Wagen. Das erste Mal ergreift er sein in der Türverkleidung steckendes Fernglas und kann es nicht glauben. So weit vorne in der Massai Mara hat er Elefanten noch nicht gesehen.

Ein Leben ohne zivilisiertes Wasser und Strom, das nenne ich einmal Entschleunigung. Das Wasser, was die Massai Frauen und Kinder hier täglich über zum Teil kilometerlange Fußmärsche in ihre Siedlungen tragen ist so trüb, wir würden es sicherlich nur zum Blumengießen benutzen. Hier dient es zum Durst Stillen und zum Kochen.

Und, kaum zu glauben, weit weg von der nächsten Strom- und Wasserleitung dampfstrahlt ein junger Massai sein Motorrad. Mitten in der kenianischen Wildnis zwischen Zebras und Gnus. Ja, die reicheren Massai Familien besitzen manchmal Motorräder und ganz selten steht vor einer Palmendachhütte tatsächlich sogar ein Auto. Wo die hier ihr Benzin herbekommen, ist mir ein Rätsel.

Es vergehen keine fünf Minuten, in denen ich nicht fürchte eine unser Achsen zu verlieren, einen unserer Reifen von der Felge geschält zu bekommen oder mit unserem Wagen einfach auf die Seite zu kippen, weil unsere Seitenlage mal wieder arg nahe an der fünfundvierzig Grad Marke kratzt. Die Löcher auf dieser Piste sind selten unter dreißig Zentimeter tief. Manche Schlaglöcher wirken wie kleine Krater mit einer Tiefe von nicht selten bis an die Metergrenze. Manchmal durchfahren wir hunderte von Metern eines sogenannten aus dem Motorcross bekannten Waschbrettes. Ein Waschbrett bezeichnet den Teil einer Motorcross-Strecke, in dem ein Hügel nach dem anderen kommt. Wenn man seinen Gasgriff hier nicht richtig festhält, fliegt man aus der Bahn. Zum Glück ist Chombah kräftig genug und verfügt über genügend Kraftreserven unseren Wagen in der Spur zu halten.

Wer das wirkliche Abenteuer sucht, bucht mit unserem Chombah sechs Tage Safari in der kenianischen Wildnis. Nach gut acht Stunden Autofahrt erreichen wir die letzten drei Kilometer unserer Hofeinfahrt. Unsere Lodge rückt in greifbare Nähe.

Ein Schlagbaum inmitten einer von Bäumen umsäumten Oase beendet vorerst unsere Fahrt. Ein düster ausschauender Schrankwärter erledigt gewissenhaft seinen Job. Nach einem kurzen Gespräch mit Chombah öffnet er die Schranke und gewährt uns damit die Zufahrt auf das Lodge-Gelände. Nach wenigen Metern entdecken wir die ersten unter Bäumen wunderschön in die Savanne gebauten Makutidachhäuschen. Vor uns erscheint das Empfangsgebäude.

 

Scheinbar das komplette Lodgespersonal hat sich in Position gebracht, um uns Neuankömmlinge in Empfang zu nehmen. Als wir die Türen öffnen, scheint man sich noch das Personal der Nachbarlodges zur Hilfe geholt zu haben. Achtzehn teilweise in alter Tradition gekleidete Massai, teilweise mit riesigen Löchern in den Ohrläppchen, reichen uns warme nach Zitrone riechende Waschlappen, Kaltgetränke und laden unsere Koffer aus. Ich habe das Gefühl in das Foyer unseres Camps getragen zu werden. Und da ist es wieder: Servicewüste Deutschland.

Chombah erlaubt uns kurz unsere Unterkunft zu beziehen.

Einen Augenschlag später verlassen wir unsere strohdachgedeckte, nur weniger Meter oberhalb des zu dieser Jahreszeit nicht mehr sehr wasserreichen Talek River gelegene Lodge, von der aus wir später die Hippos in ihr Nachtkamp ziehen, zu Fuß über eine den Fluss querende Holzbrücke. Um uns herum dichtbewachsene Vegetation in der rauen Flusslandschaft. Nach einigen Fußmetern öffnet sich vor uns die unendliche Weite der hügeligen Massai-Steppe. Chombah erwartet uns bereits am anderen Ufer des Flusses. Nach einer kurzen Besprechung starten wir noch vor der Dämmerung zu unserer ersten Abendpirsch. Schon nach wenigen hundert Metern entdecke ich die erste Giraffe sich die feinen Äste aus einem Steppenbaum pflückend.

Immer weiter in die Massai Mara hinein fahren wir der am Horizont langsam untergehenden Sonne entgegen. Zebras und Gnus, soweit das Auge sehen kann. Ich frage mich, ob diese vielen Tiere echt sind. Alles scheint ein wenig surreal. All die Eindrücke nachhaltig aufzunehmen bin ich schon nach kurzer Zeit nicht mehr in der Lage.

 

Hier eine kleine Gruppe Steppenelefanten, die sich im Abendlicht der Sonne auf den Weg zu ihrer Schlafstätte machen. Dort eine Hyäne auf der Lauer nach Aas und im Streit mit den Geiern. Impalas auf der Flucht vor lauernden Raubkatzen. Es ist überwältigend. Noch bevor die Sonne untergeht lenkt Chombah unseren Wagen sicher zurück an unseren Ausgangspunkt.

Wir sitzen im Restaurant unserer Anlage und genießen kalten Wein und ein abwechslungsreiches Abendbuffet. Was für eine logistische Meisterleistung musste vollbracht werden, um hier für uns alles so herzurichten. Jeder Stuhl, jeder Tisch, jedes Glas - alles musste hier irgendwie hergebracht werden. Wir fragen uns, wie transportiert man über diese Hofeinfahrt rohe Eier, so dass diese ihr Ziel heil erreichen. Strom und fließend Wasser sind hier selbstverständlich. WLAN leider auch. Die Massai wissen hier in der Trockenzeit nicht, wo sie Wasser zum Trinken herbekommen sollen. Wir schwimmen nach dem Essen ein paar Runden in unserem Pool, mit glasklarem beheizten Wasser. Glasklares Wasser, Trinkwasser für eine ganze Massai-Familie fast ein ganzes Leben lang. Kann Urlaub so Spaß machen?

 

All die Eindrücke unseres ersten Safari-Tages nicht wirklich verarbeiten zu können, und mich nicht an den für uns so aufgetischten Luxus in diesem eigentlich von solcher Armut geprägten Leben gewöhnen zu können, falle ich gegen

21:00 Uhr vom Tag geschafft in mein Bett und werde dieses für die nächsten Stunden nicht mehr verlassen.